Werk

Frühwerk
Die ersten, bereits in der Schulzeit entstandenen Kunstwerke lassen eine ausgeprägte Beobachtungsgabe und eine sehr sichere Hand bei der Pinsel- und Stiftführung erkennen. Während des Studiums an der Hamburger Hochschule für bildende Künste erarbeitet HD sich die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, von Picasso und den Expressionisten bis zur gestischen Malerei der Ecole de Paris; der entscheidende Wechsel zum seriellen, konstruktivistischen Prinzip ist geprägt durch ihren Lehrer Almir Mavignier sowie die Künstler der Zero-Gruppe.

New York
Im März 1966 geht HD für knapp zwei Jahre nach New York und entwickelt im Umfeld der bereits sichtbaren Konzept- und Minimal-Kunst, allerdings in weitgehender Isolation, ihre Systeme einfacher Zahlenabläufe (z.B. 3 5 7 5 3) mit komplexen Variationsfolgen; das Prozesshafte des reifen Werks ist hier bereits vorhanden. Unterstützung findet sie bei den Protagonisten und Promotern der Szene, insbesondere Sol LeWitt, Lucy Lippard, John Weber und Kasper König; dieser Kreis trägt wesentlich zu ihrer sich schnell entwickelnden, internationalen Karriere bei. Ihr engster Gefährte in dieser Zeit ist der Konzeptualist Roy Colmer (1935-2014).

Ansässig in Rönneburg, dem südlichsten Ausläufer Hamburg-Harburgs, hat HD in der Stadt New York stets ihre "zweite Heimat" gesehen; den Kontrast zwischen der internationalen Metropole und dem ländlich-beschaulichen Rönneburg hat sie gelebt und in ihrer Arbeit thematisiert (z.B. mit "Surise/Sunset: To: New York", 1984 und "Ansichten >85<", 1984-85). Mit ihren regelmäßen Reisen über den Atlantik, insbesondere seit dem Kontakt mit Leo Castelli 1972, sowie den häufigen Besuchen ihrer Freunde aus den USA und Europa "Am Burgberg" (die Hausadresse) ist diese Verbindung zeitlebens aktiv.

Tagesdatum
Die bedeutendste Innovation HDs ist exakt datiert: am 31. Juli 1968 notiert sie in ihrem Diary: "Plan: 3 1 7 6 8 x 3 1 7 6 8  X  5 x 5   5 Zahlen". Damit ist die Grundlage ihrer weiteren rechnerisch-mathematischen Arbeit gelegt: die Addition der Ziffern des Tagesdatums. Diese Quersumme des Datums bezeichnet sie als "K-Wert", benannt nach der jeweiligen Konstruktion. Eckdaten sind die K-Werte des ersten und letzten Tages der Jahre '00 und '99: 2 (1+1+0+0) und 43 (31+12+0+0) sowie 20 (1+1+9+9) und 61 (31+12+9+9). Zwischen diesen Zahlenwerten, die ein Jahrhundert umfassen, bewegt sich im wesentlichen das weitere rechnerische Werk.

Die jeweiligen Zahlenwerte werden visualisiert in Form von kleinen quadratischen "Kästchen", als wellenförmige Schreiblinien oder durch das Notieren von Zahlen in der Häufigkeit ihres Nennwertes, sowohl in Ziffern als auch in Worten. Entscheidend sind jedoch weniger die einzelnen Daten als vielmehr die Abläufe der K-Werte und der "Von-Bis-Texte" mitsamt ihren vielfältigen und immer kunstvolleren Varianten, bei denen – neben dem Quadrat - Großformen wie Winkel und Halbkreise erkennbar werden. Hier ist das Raumgreifende der Arbeiten sichtbar, das dann in den wandfüllenden Installationen fassbare Realität wird.

Schrift, Buch
Verbunden mit der Entwicklung der Tagesdaten-Quersummenrechnung ist die Abkehr von den traditionellen Techniken der bildenden Kunst. HD versteht ihr künstlerisches "Tun" (wie sie ihre Arbeit nennt) weithin als Schreiben, sie stellt ihr Werk in die Tradition von Schrift und Buch. Grundlage ist das einzelne Blatt Papier, zumeist im Format DIN A 4, das sie mit der Hand oder Schreibmaschine füllt, gelegentlich als Buch verfasst oder zu umfangreichen Büchern und Alben zusammenstellt.
Die erste konsequente Umsetzung des Schrift-Gedankens in traditioneller Form ist die handschriftliche Kopie der ersten fünf Gesänge von Homers Odyssee (1971), eine der ältesten und grundlegenden Dichtungen abendländischer Kultur. Diese Arbeit ist von herausragender Bedeutung in HDs Schaffen: Das Konzept des feierlichen Hymnus prägt eine Reihe von späteren, umfangreichen Arbeiten, sowohl inhaltlich als auch formal. So reflektiert die "Schreibzeit" die "Irrfahrten" der Gegenwart, und die beiden wortlosen, mathematischen Komplexe der "24 Gesänge" von 1974 und 1984 übernehmen die Struktur der Odyssee unmittelbar.

Existenzielles
Die Zahlen-Werke sind nicht allein mathematische Konstrukte. Sie haben zugleich einen symbolhaften Charakter, stehen sie doch auch für die auf sie verwandte Lebenszeit und -energie: Einzelne Werke, über Monate, gar Jahre hinweg entstanden, können viele Tausend Blatt umfassen oder bleiben, wie die 1971 begonnene "grosse arbeit", mit über 40.000 Blatt unvollendet. Der hier sichtbare Aspekt des Existenziellen durchzieht das gesamte Werk; es wird explizit benannt in Arbeiten wie dem monumentalen "Requiem" (1971-85), in "Wunschkonzert – 144 Gedichte" (1984), "Existenz" (1989), "Kreuzfahrt zur Hölle" (1993) oder auch "Stuhl/Stuhl“ (1998-99).

Schreibzeit
Bedrückt durch die politische Situation in Deutschland und in der Welt, beginnt die politisch stets hellwache Künstlerin 1974 einen weit ausgreifenden Kommentar zur Zeit, die "Schreibzeit". Anhand von Hunderten vorgefundener und abgeschriebener Texte, die von den jüngsten SPIEGEL-Ausgaben über die Brockhaus-Enzyklopädie bis zu den Gedichten Hölderlins und Lao-Tses reichen, geht sie den Verbindungen von Kunst und Politik nach, unterstreicht dabei das politikferne Eigene der Kunst und plädiert für eine ideologiefreie "Realpolitik" im Sinne Bismarcks. Immer wieder benennt sie die Themen, Quellen und Folgen der Nazi-Ideologie und deren Verbindung zur deutschen Romantik.

Kulturgeschichte, Sammlung
Ähnlich umfassend angelegt ist die nachfolgende "Kulturgeschichte" (1980-83), die als Gegenentwurf zur "Schreibzeit" mit Fotos, Katalogen, Vorlageblättern, Zeitschriften, Plakaten und Postkarten ausschließlich visuelles Material enthält. Beide Werke repräsentieren, ausgehend von der Gegenwart, eine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, das eine mit dem Wort, das andere mit dem Bild.

Die Flut von Bildern findet ihr Äquivalent in HDs umfangreicher Sammlung, die ihr Haus bis in den letzten Winkel hinein in geradezu bedrängender Weise füllt. Kitschiges und Kuriositäten stehen gleichwertig neben kostbaren Sammlerstücken, Kunstwerke und Bücher neben Kalendern, Fotos, Postkarten oder auch Musikinstrumenten. Dieses zum großen Teil zufällig (z.B. als Geschenke von Freunden und Besuchern) entstandene Ambiente ist der vollkommene Gegenentwurf zum rationalen Rechenwerk und repräsentiert gleichsam ein zweites Ich der Künstlerin. Einige der Objekte, die HD gezielt erwarb oder eigens anfertigen ließ, werden bei der Ausstellung der "Kulturgeschichte" wie auch anderer Arbeiten in die Präsentation einbezogen und in die Werke als Abbildung eingefügt.

Thematische Arbeiten
Zahl, Schrift und Bild sowie die Prinzipien der Collage und der Objekt-Assemblage bilden nun die Grundlage von HDs Schaffen. So entstehen mit und nach der "Schreibzeit" umfangreiche thematische Werke als Hommagen an die großen Dichter, Philosophen, Wissenschaftler, Politiker und Künstler - die Leitfiguren ihres Lebens. Zu nennen sind insbesondere Leibniz, Bach, Friedrich II., Lichtenberg, Beethoven, Goethe, Alexander v. Humboldt, Heine, Lincoln, Bismarck, Rilke, Gertrude Stein, Walter Mehring, Alfred Döblin, Picasso und Kurt Schwitters. Auch dem Völkerrecht, der friedlichen Nutzung der Atomkraft (Rutherford, Bohr), der "Ost-West-Demokratie", den "Erfindungen, die unsere Welt verändert haben", sowie, besonders umfangreich, den "Kindern dieser Welt" sind die Arbeiten gewidmet.

Es ist – in Anlehnung an Humboldt – tatsächlich ein Kosmos, der sich in HDs Werk entfaltet. Es spiegelt die wahrlich welt-offene, global orientierte Haltung der Künstlerin; "kosmopolitisch" war eine ihrer Lieblingsvokabeln. Hinter alldem steht mehr als nur bildungsbürgerliches Wissen. Entscheidend ist der Impuls von Aufklärung und Humanität, von Ethik und Moral: hier wirkt der Kategorische Imperativ Immanuel Kants.

Musik
Bereits als Kind zeigt HD eine große musikalische Begabung, die sie dann zugunsten der bildenden Kunst zurückstellt, die jedoch stets präsent bleibt: Unübersehbar ist die Nähe zwischen den Zahlen-Abläufen mit Varianten und einem musikalischen Thema mit Variationen. 1980 beginnt sie, ihre Zahlensysteme nach einem einfachen Prinzip (Zahl 0 = Note d etc.) in Notenfolgen umzusetzen, die sie von einem professionellen Musiker in traditioneller Weise für verschiedene Instrumente, von der Solobesetzung bis zum vollen Orchester, arrangieren läßt, so daß ein faszinierendes Klangerlebnis entsteht, eine Mischung aus "mathematischer Musik" (HD) und der großen Tradition der deutschen Klassik.

Spätwerk
Im Bewusstsein, das Nötige gesagt zu haben, widmet sich HD in ihren späten Jahren der Realisierung früh entwickelter Konzepte. So wendet sie sich insbesondere ihrem musikalischen Werk zu. Eine Vielzahl sowohl mathematischer als auch thematischer Arbeiten wird in Partituren umgesetzt und instrumental eingespielt. Der Orgel kommt dabei eine herausgehobene Rolle zu.

Dank der technologischen Entwicklung kann sie nun auch die um 1970 entworfenen, aber wegen des zu großen Arbeitsaufwands nicht ausgeführten Rechenwerke mit "Kästchen"-Zeichnungen als Computer-Ausdrucke verwirklichen. In Tausenden von "Zetteln", auf Kartons fixiert und zu Alben gebunden, lässt sie die K-Werte von 2 bis 62 in den gegebenen Abläufen und Varianten Revue passieren. Schließlich realisiert sie eine bereits 1967 in New York gefasste Idee: die Umsetzung der mathematischen Zeichnungen in Skulpturen, in hölzerne "Kästchenmodelle". Auch hier bilden die K-Werte die Grundlage.

Weitere Veröffentlichungen
Seit ihrem Aufbruch nach New York hält HD die wesentlichen politischen und persönlichen Tagesereignisse in kurzen Kalendernotizen fest; sie werden in der Arbeit "Existenz" (1989) ebenso öffentlich gemacht, wie die "Briefe aus New York 1966-1968 an zu Hause" (Stuttgart 1997) sowie die intime "Korrespondenz" mit ihren Freunden von 1967 bis 1975 (Köln 2015) - alles gemäß ihrem Motto "mein Geheimnis ist, dass ich keines habe".

Ernst A. Busche